Wir
haben wahrscheinlich alle Vorstellungen darüber, wie eine
charismatische Schriftstellerinnenpersönlichkeit des 19. Jh. auszusehen
hat, deren Kultausstrahlung bis heute, 150 Jahre später, ungebrochen
den Literaturhimmel erleuchtet.
Wenn
wir uns die viktorianische Gesellschaftsordnung im England des 19. Jh.
ansehen, stellen wir uns berühmte, schreibende Frauen vielleicht so
vor: Mutig, kämpferisch veranlagt, auf Selbstverwirklichungsrechte der
Frauen bestehend, in der Öffentlichkeit, möglicherweise in der Boheme
zu Hause, Frauen, die sich in Politik und Gesellschaft einmischen, die
in Literatursalons verkehren, die mit allen berühmten Persönlichkeiten
ihrer Zeit bekannt sind, die, wenn nicht bildschön, dann zumindest
originell und geheimnisvoll sind und die vielleicht komplizierte, mehr
oder weniger unglückliche Liebschaften haben.
Diese
Vorstellung über die Schwestern Brontë wird zusätzlich genährt durch
ihre Bücher, die z.T. literarische Skandalbücher ihrer Zeit waren:
Sex, Gewalt, Leidenschaften, Wahnsinn, Ehebruch, Inzest, Alkoholismus
werden mitunter deutlich angesprochen, Heldinnen der Bücher treten
teilweise aus der ihnen vorgeschriebenen Rolle heraus. Die Gesellschaft
ist schockiert, die Bücher gelten als nicht jugendfrei.
Das,
was wirklich über die drei Schwestern und ihre Familie bekannt ist,
steht jedoch in krassem Widerspruch zu solchen Vorstellungen.
Zunächst
einmal sind die Schwestern Pfarrerstöchter und erhalten eine streng
religiöse Erziehung. Als Kinder verlieren sie früh ihre Mutter und
ihre ältesten Schwestern, was die vier zurückbleibenden Geschwister,
den Bruder Branwell und die drei Mädchen sehr eng zusammen wachsen lässt.
Keine der drei Schwestern hat wirkliches Talent, Freundschaften und
Beziehungen außerhalb ihrer Familie aufzubauen. Einzig Charlotte pflegt
lebenslange Freundschaften mit zwei Mädchen, die sie in der
Internatsschule Roe Head kennen lernt: Die lustige und forsche Tochter
eines Tuchfabrikanten namens Mary Taylor und die sympathische, fromme
und konventionelle Ellen Nussey.
Und
ebenfalls nur von Charlotte sind Beziehungen zu Männern bekannt; sie
ist die einzige, von der Liebesbriefe überliefert sind, die Heiratsanträge
erhält und die einzige, die später auch eine Ehe eingeht. Von Anne,
der jüngsten und hübschesten der drei Schwestern gibt es das Gerücht,
sie sei in einen der Hilfspfarrer ihres Vaters namens William Weightman,
verliebt gewesen, doch endet diese Liebesgeschichte tragisch mit dem frühen
Tod Williams. Er stirbt 28-jährig ganz plötzlich an er Cholera.
William Weightman
Eines
von Annes Gedichten lässt Vermutungen über ihre Gefühle zu:

Ach,
du bist fort! Nie
wieder schenkt
Dein
strahlendes Lächeln Freude mir.
Die
Kirche betret' ich, den Blick gesenkt
Auf
den deckenden Boden über dir.

Darf
auf eisigem Stein stillestehen
Und
denken: Darunter, in Kälte gebannt,
Ruht
das reinste Geschöpf, das ich je gesehn,
Das
liebreichste Herz, das ich je gekannt.

Selbst
wenn meine Augen dich nicht mehr finden,
Ist
es doch ein Trost, dass sie dich erlebt;
Und
obwohl dein flücht'ges Leben musst' schwinden,
Ist
der Gedanke süß, dass du gelebt;

Zu
denken, eine Seele so göttergleich
In
einer so engelschönen Gestalt,
Verbunden
mit deinem Herzen so weich
Gab
uns im irdischen Dasein Halt.

Von
Emily ist nichts über Verhältnisse zu Männern bekannt. Sie hat ein
verschlossenes Wesen, und verbringt einen großen Teil ihres Lebens im
Pfarrhaus in Haworth. Die Literaturwissenschaft wird wahrscheinlich für
immer an dem Rätsel herumknacken, wie eine solch nonnenhaft lebende
Frau in ihrem einzigen Buch "Sturmhöhe" so detailliert auf
sexuelle Themen eingehen kann.
Emily,
Zeichnung von Charlotte
Eine
Theorie konstruiert eine inzestuöse Beziehung zwischen Emily und ihrem
Bruder Branwell.
Selbstkarikatur von Branwell
Der
Bruder Branwell wird in seinen Beziehungen zu Frauen zumeist als
unrealistisch und unreif dargestellt. Er schwärmt für Frauen, umwirbt
sie, und sobald sie sich ihm zuwenden, ergreift er die Flucht. Außerdem
gibt es über Branwell die Geschichte, dass er eine Liebesbeziehung zu
seiner Dienstherrin Mrs. Robinson eingegangen sei. Er und seine
Schwester Anne arbeiten einige Jahre als Hauslehrer bzw. Gouvernante für
die Robinson-Kinder. Branwell wird ganz überraschend von Mr. Robinson
wegen untragbaren Verhaltens entlassen. Es ist im Nachhinein nur schwer
aufzuklären, ob an der ganzen Liebesgeschichte zwischen Mrs. Robinson
und Branwell etwas dran ist. Branwell schreibt Mrs. Robinson
Liebesbriefe, Mrs. Robinson lässt ihm ausrichten, dass er sie in Ruhe
lassen soll. Branwell verbreitet die Story, dass Mr. Robinson seinem
Testament die Klausel hinzugefügt hat, dass im Falle, sollte seine Frau
nach seinem Tod Branwell Brontë heiraten, sie nichts erbte. Tatsache
ist: Von Branwell ist in dem Testament nicht die Rede. Mrs. Robinson
greift auf genug eigenes Vermögen zurück und heiratet nach dem Tod
ihres Mannes einen Mann ihres Standes, Sir Edward Scott. An Branwell
verschwendet sie offensichtlich kaum einen Gedanken mehr.
Daphne
du Maurier, die eine Branwell-Biografie schrieb, konstruiert die
Geschichte, dass nicht die angebliche Leidenschaft zwischen Branwell und
Mrs. Robinson der Grund für seine Entlassung gewesen sei; nein,
Branwell hätte mit den beiden Söhnen der Robinsons, seinen Schützlingen,
eine Missbrauchsbeziehung angefangen. Das erscheint mir allerdings etwas
weit hergeholt zu sein und fußt auf weniger bekannten Tatsachen, als
die Geschichte des Verhältnisses zwischen Mrs. Robinson und Branwell.
Beziehungen
zu anderen Menschen, seien es Angehörige des eigenen Geschlechts wie
auch des anderen Geschlechts, scheinen für alle Brontë-Kinder schwierig
gewesen zu sein.
Die
Freundinnen Charlottes besuchen hin und wieder die Familie Brontë und
werden dort auch sehr freundlich aufgenommen. Doch zu den Schwestern
Emily und Anne ist nur schwer Kontakt aufzunehmen, da sie in hohem Maße
schüchtern, geradezu soziophobisch reagieren. Von Emily ist überliefert,
dass sie wenig gesprächig ist, von Anne, dass sie aufgrund ihres
Stotterns große Probleme hat, sich zu äußern. Charlotte scheint noch
die weltoffenste der drei Schwestern zu sein: Doch auch sie wird von den
Mitmenschen später als recht verschroben und menschenscheu beschrieben.
Die
vier Brontë-Kinder, die im Alter nur etwa je ein Jahr auseinander sind,
bilden eine kleine verschworene Kindergemeinschaft, die über weite
Strecken im Haworther Pfarrhaus ein von anderen Menschen abgeschiedenes
Leben führt.
Charlottes
Freundin Mary Taylor erinnert sich später:
"Die
Angewohnheit, sich interessante Dinge auszudenken, welche die meisten
Kinder annehmen, deren wirkliches Leben ereignislos verläuft, war in
ihr (Charlotte) sehr ausgeprägt. Die ganze Familie pflegte sich
Geschichten auszudenken und Charaktere und Ereignisse zu erfinden. Ich
sagte ihr zuweilen, sie kämen mir vor wie Kartoffeln, die in einem
dunklen Keller keimten. Sie sagte traurig: "Ja, ich weiß, so sind
wir."
Durch
diese Beschreibungen bekommen die drei Brontë-Schwestern im Nachhinein
einen anders gefärbten Glorienschein verpasst: Drei in der
Abgeschiedenheit der Yorkshire Moore aufwachsende Mädchen erobern Kraft
ihrer genialischen Phantasiebegabung die Literaturwelt. Dazu kommt die
romantische Verklärung ihres frühen Todes.
Obwohl
die rührige Brontë-Society, 1893 von Brontë-Fans gegründet, sich darum
bemüht, einige Brontë-Legenden zu berichtigen, hält sich bei den
zahllosen Besuchern des ehemaligen Wohnortes der Drei, des Kultortes
Haworth hartnäckig das Bild der über die windumtosten Moore wandernden
und in Kontemplation versunkenen Frauen, die aus der einsamen Natur ihre
Inspiration schöpften.
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