Die Idee der eigenen Schule

Weiterbildung in Brüssel im Institut Heger

 

 

Alle drei Schwestern Brontë sind durch ihre teilweise sehr freiheitliche Erziehung in gewisser Weise Freigeister geworden. Von daher ist es nur folgerichtig, dass sie nach Auswegen suchen, der abhängigen Situation des Gouvernantendaseins zu entkommen. Charlotte, die Älteste und in allen Projekten die treibende Kraft, hat auf einmal eine Idee: Wie wäre es, mit ihren gemeinsamen Kenntnissen und Fähigkeiten, eine eigene Mädchenschule zu gründen? Sie wären ihre eigenen Herrinnen und könnten als Geschwister zusammen leben.

Angeregt durch den Brief ihrer Freundin Mary Taylor, die gerade in Belgien ihre Schwester besucht, hat Charlotte plötzlich noch eine andere Idee: Bevor sie eine eigene Schule eröffnen, sollten zwei von ihnen zunächst ihre Lehrerinnenausbildung vervollkommnen. Der Plan entsteht, dass Emily und sie selbst für eine Zeit in eine Schule in Brüssel gehen, was bedeuten würde: Auslandserfahrung, Sprachen besser lernen, sich einen französischen Akzent aneignen, alles Fähigkeiten, die ihnen die Eröffnung einer eigenen Schule erleichtern sollen.

Emily lebt zu dieser Zeit zu Hause und wäre frei, Charlotte ist gerade wieder in einer Anstellung gescheitert. Anne arbeitet bei der Familie Robinson. Also bietet es sich an, dass Charlotte sich zusammen mit Emily aufmacht.

Mit diplomatischem Geschick bekommt Charlotte ihre Tante Branwell dazu, ihnen für das Projekt Geld zu leihen und findet über einen bekannten Pfarrer in Brüssel eine geeignete Schule: das Pensionat des Demoiselles der Madame Claire Zoe Heger.

Es passt nicht in das Bild von Brontë-Forschern/innen, dass Charlotte zusammen mit Emily ins Ausland gehen will. Emily hat bisher den Wohnort Haworth kaum verlassen. In der Schule bekam sie Heimweh und über Emilys einzige Lehrerinnenstelle schreibt Charlotte an ihre Freundin Ellen: "Schwere Arbeit von sechs Uhr morgens bis etwa elf Uhr nachts, und zwischendurch nur eine Stunde zum Entspannen. Das ist Sklaverei. Ich fürchte, das wird sie nicht durchstehen." Diese Einschätzung Charlottes erweist sich als richtig.

Das Bild, das von Emily gezeichnet wird: Eigenwillig, verschlossen, wenig interessiert an und wenig einfühlsam in andere. Am wohlsten fühle sie sich im Umgang mit ihren Tieren oder in einsamen Spaziergängen auf den Hochmooren rund um Haworth.

Emily

Lassen wir die drei Schwestern selbst zu dem Projekt sprechen:

Charlottes Kommentar zum Brief ihrer Freundin, der sie anregt nach Brüssel zu gehen: "Ich weiß gar nicht, was mir plötzlich in die Kehle stieg, als ich den Brief las; so eine heftige Ungeduld gegen die Einschränkungen der Routine, solch ein starker Wunsch nach Flügeln, so ein ungestümer Hunger zu schauen, zu wissen, zu lernen. Etwas in meinem Innern schien sich plötzlich für einen Augenblick auszudehnen. Mich quälte das Bewusstsein meiner ungenutzten Fähigkeiten - dann brach alles zusammen und ich verzweifelte."

Zitat Emily über den Schulplan: "Zur Zeit wird der Plan erwogen, unsere eigene Schule zu gründen; zwar ist noch nichts entschieden, aber ich hoffe und vertraue darauf, dass er weiter verfolgt wird und gedeiht und unsere schönsten Erwartungen erfüllt. Ich wüsste gern, ob wir heute in vier Jahren noch immer so langweilig dahinleben werden wie jetzt, oder ob wir von Herzen zufrieden sein werden ...

Ich stelle mir vor, dass ... wir (d.h. Charlotte, Anne und ich) alle fröhlich in irgendeiner hübschen, gutgehenden Schule in unserem eigenen Zimmer sitzen werden. Die Sommerferien werden gerade begonnen haben. Unsere Schulden werden bezahlt sein, und wir werden Bares in beträchtlicher Höhe zur Verfügung haben. Papa, Tante und Branwell werden uns gerade besucht haben oder sich ankündigen. Es wird ein schöner, warmer Sommerabend sein, ganz anders als die hiesige Öde ..."

Anne, die Zurückgelassene schreibt vier Jahre später rückblickend auf die Situation, dass ihre Schwestern nach Brüssel gehen und sie in ihrer Anstellung bleiben muss: "Damals war ich in Thorp Green (als Gouvernante bei den Robinsons); von dort bin ich gerade erst entkommen. Damals wünschte ich mich von dort weg, und wenn ich gewusst hätte, dass ich noch vier weitere Jahre würde dort bleiben müssen - wie unglücklich wäre ich gewesen."

Die geplante Schule soll übrigens trotz der konzertierten Anstrengungen der drei Frauen nie eröffnet werden. Dazu aus 1845, vier Jahre später, nochmals ein Zitat von Emily: "Ich sollte erwähnen, dass im letzten Sommer der Plan mit der Schule wieder mit großem Nachdruck vorangetrieben wurde. Wir hatten gedruckte Prospekte, schickten Briefe an alle Bekannten, teilten unsere Pläne mit und taten, was wir konnten, doch die Sache nahm keinen Fortgang. Jetzt habe ich überhaupt kein Verlangen nach einer Schule, und keine von uns verspürt große Sehnsucht danach."

Die Schule soll nicht zustande kommen, weil sich keine Schülerinnen anmelden. Zunächst hatten die Schwestern geeignete Räumlichkeiten in einer schönen Gegend gesucht, hatten keine gefunden, und dann fassten sie die "Schnapsidee", ihre Schule im Pfarrhaus zu eröffnen. Der Plan scheint wirklich kaum durchdacht gewesen zu sein: Es gab keinen Platz zur Unterbringung der Schülerinnen und das Haus lag in einer der tristesten Gegenden Englands. Niemand war bereit, seine Töchter dem auszusetzen.

Alle drei Schwestern verspüren aber im Alter von Anfang zwanzig den starken Wunsch, etwas Neues zu erleben, aus ihren Verhältnissen auszubrechen.

Eine Reise von England nach Belgien ist für junge Frauen, die bislang nur einen Radius von höchstens 100 km rund um ihren Heimatort gesteckt hatten, zu dieser Zeit ein ziemliches Abenteuer.

Deswegen beschließt Pfarrer Brontë, seine beiden ältesten Töchter Anfang des Jahres 1842 nach Belgien zu begleiten.

Das Institut Heger wird geleitet von der kleinen, resoluten, geschäftstüchtigen Madame Heger, damals Mutter von drei Kindern und 37 Jahre alt. Ihr Ehemann, Constantine Heger, fünf Jahre jünger als seine Gattin, ist auch Lehrer und unterrichtet an einer benachbarten Jungenschule. Im Institut seiner Frau unterrichtet er nur nebenbei.

16 Mädchen sind insgesamt bei den Hegers untergebracht. Alle anderen Schülerinnen sind bedeutend jünger als die beiden Brontë-Schwestern, sind fast alle Belgierinnen und zudem katholisch, für die Protestantinnen Emily und Charlotte ein schwerer Schock. Dazu Charlotte an ihre Freundin Ellen zu Hause: "... die Verschiedenheit in Herkunft und Religion zieht eine breite Demarkationslinie zwischen uns und dem Rest. Wir sind vollständig isoliert unter den vielen."

Und später fügt sie hinzu: "Ihre moralischen Grundsätze sind durch und durch verderbt. Wir meiden sie."

Die beiden Frauen müssen feststellen, dass ihr Französisch schlechter ist, als sie gedacht hatten, daher wird es notwendig, dass Monsieur Heger ihnen Nachhilfeunterricht erteilt.

Über das Lernen bei Constantine Heger im Institut schreibt Charlotte: "Von einer Person habe ich noch nicht gesprochen, von Monsieur Heger, dem Gatten von Madame ... ein Mann von machtvollem Intellekt, aber sehr cholerisch und reizbar, ein kleines, dunkles, hässliches Wesen mit einem Gesicht, dessen Ausdruck wechselt. Manchmal nimmt es die Züge eines verrückten Katers an, manchmal die einer verrückten Hyäne ... Vor einigen Wochen hat er mir in einer hochfliegenden Laune verboten, Wörterbuch und Grammatik zu gebrauchen, wenn ich die schwierigen englischen Aufsätze ins Französische übersetze. Dies macht die Aufgabe ziemlich mühsam und zwingt mich, hier und da ein englisches Wort zu benutzen, bei dessen Anblick ihm dann die Augen vor den Kopf treten. Emily und er kommen nicht gut miteinander zurecht. Wenn er sehr scharf mit mir spricht, weine ich; das bringt alles wieder ins Lot. Emily arbeitet wie ein Pferd, und sie hat mit größeren Schwierigkeiten zu kämpfen, viel mehr als ich."

Wie viele belastende Situationen ziehen die beiden ernsthaften Frauen auch diese entschlossen durch. Nach einem halben Jahr bieten die Hegers ihren beiden seltsamen englischen Schülerinnen an, dass nach den Sommerferien Charlotte als Englischlehrerin und Emily als Musiklehrerin beschäftigt werden sollen. Im Gegenzug können sie weiter Französisch und Deutsch lernen und im Pensionat wohnen.

Das Angebot nehmen die beiden an.

Zu Hause in Haworth ereignen sich während des Jahres 1842 schlimme Dinge. Der geschätzte Hilfspfarrer des Reverent Brontë, William Weightman, der für die Brontë Geschwister ein Freund ist, stirbt an Cholera. Und die Tante stirbt Ende Oktober des Jahres, was Charlotte und Emily veranlasst, nach Hause zur Beerdigung zu fahren. Doch als sie etwa eine Woche später in Haworth eintreffen, ist die Beerdigung bereits vorbei.

Monsieur Heger gibt den beiden Frauen einen Brief an Pfarrer Brontë mit, der das Angebot enthält, die beiden dürften - so wie seit den Sommerferien praktiziert - als Schülerinnen und zugleich als Lehrerinnen im Institut ein weiteres Jahr verbringen.

Das Angebot wird allerdings nur Charlotte annehmen. Emily ist viel zu froh, wieder zu Hause in Haworth zu sein und nimmt nur zu gerne die Pflicht auf sich, nach dem Tod der Tante den Haushalt zu führen. Der Pfarrer ist in der Zwischenzeit fast erblindet und braucht eine seiner Töchter als Unterstützung.

Nach Weihnachten trennen sich die Brontë-Geschwister alle wieder: Anne und Branwell gehen in ihr Dienstverhältnis bei der Familie Robinson, Emily bleibt in Haworth und Charlotte macht sich erneut auf den Weg zurück nach Brüssel.

Charlotte

Hier ist sie nun allein. Mit den koketten, oberflächlichen Schülerinnen hat sie nichts gemeinsam, und auch sonst kann sie keine Bekanntschaften mit anderen schließen. An ihren Bruder schreibt Charlotte fünf Monate später über ihr Leben in Brüssel: "... es ist so ermüdend, wenn man sich Tag für Tag um nichts sorgt, nichts fürchtet, nichts mag, nichts hasst, nichts ist, nichts tut."

Möglicherweise entsteht aus diesem emotionalen Vakuum heraus die unglaubliche Obsession, die Charlotte in Bezug auf Monsieur Heger entwickeln wird, denn Constantine Heger ist der Einzige, mit dem sie etwas näher zu tun hat.

Monsieur Heger ist ein eitler, selbstgefälliger und gönnerhafter Typ, dem es ungemein schmeichelt, dass seine Schülerin in ihn verliebt ist. Die Neigung bleibt natürlich auch Madame Heger nicht verborgen, und das Verhältnis zwischen den beiden Frauen, das zunächst nicht so schlecht gewesen war, kühlt merklich ab.

Im Oktober 1843 will Charlotte wahrscheinlich in erster Linie wegen ihrer unerfüllbaren Leidenschaft für Heger kündigen, aber Monsieur Heger überredet sie, noch bis Jahresende zu bleiben. Doch dann erfordert vor allem die Erblindung des Vaters ihre Heimreise. Außerdem ist ihre formale Bildung im Institut Heger abgeschlossen, und es gibt keinen zwingenden Grund, dort zu bleiben.

 

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