Haworth
war zur Zeit der Brontë-Kinder im Gegensatz zu heute ein völlig überfüllter
Platz. Heute ist der Ort nur noch von Literaturtouristen überfüllt,
etwa 220.000 sind es im Jahr.

oben: Wegweiser
zum Brontë-Parsonage-Museum, Haworth
unten: Wegweiser zu Brontë-Kult-Plätzen gibt's in Japanisch

Die meisten der wenigen Haworther
"Ureinwohner" leben in irgendeiner Form von den Brontës und
vom Tourismus: In den Läden gibt es Brontë-Andenken, Gaststätten führen
Spezialitäten wie Brontë-Eis, Brontë-Kuchen usw., in der alten Apotheke
des Ortes gibt es Parfum-Kreationen mit den Namen Anne, Emily, Charlotte
Brontë, die Gaststätte "Black Bull", die direkt neben der
Kirche zu finden ist, bietet kaum mehr Platz für Einheimische. Sie wird
fast nur noch von Touristen besucht, was für die Dorfbewohner
schmerzlich ist, denn das Bier kostet jetzt mehr als anderswo, und wenn
man als Einheimischer mal abends ausgehen will, muss man kilometerweit
fahren, um dem Touristennepp zu entgehen. Denn auch in den Nachbardörfern
ist alles auf Brontë eingestellt.

Aquarell
von Haworth heute, rechts der "Black Bull"

Im
Nachbarort von Haworth: Kneipe "Wuthering Heights"
Als
die Brontë-Mädchen Kinder waren, stellte Haworth einen denkbar überfüllten
und denkbar ungesunden Wohnort dar.
Es
ist heute kaum vorstellbar, dass in dem kleinen Ort Anfang des 19. Jh.
5000 Bewohner lebten. Haworth liegt damals wie heute nahe der tristen
Industriestädte Leeds und Bradford. Auch im Worth-Tal gab es zu dieser
Zeit mehrere Fabriken, die Arbeit für die Bewohner Haworths boten.
Ein
Stimmungsbild ergibt die Beschreibung des deutschen Schriftstellers
Georg Weerth der Bradford 1846 besuchte: "Je weiter wir kommen,
desto dichter scharen sich die Häuser an den Seiten der Straßen, desto
schwärzer und unheimlicher dringt uns der Dampf der Kamine entgegen
.... Bisweilen unterscheiden wir schon größere Häusermassen von den
zersplitterten und versengten Tannenwipfeln, welche am Horizont wehen
... Ringsum scheinen alle Täler und Schluchten in vollen Flammen zu
stehen; wir hören es zischen und kochen und rasseln, wenn wir an den
Fenstern der Fabriken vorüberrauschen; die Sonne verfinstert sich wie
beim Hereinbrechen eines dichten Höhrauchs; es wird plötzlich Abend am
hellen Tage."

Die
Erfindung der mit Wasserkraft betriebenen Fabrikwebstühle zwingt die
vielen Handweber auf dem Land dazu, sich in den Fabriken für einen
geringen Lohn in einen 16-Stunden Arbeitstag zu verdingen. Vorher führten
sie ein beschaulicheres Leben, waren selbstständiger, konnten sich ihre
Arbeitszeit einteilen und verfügten noch über ein gewisses
Standesbewusstsein. Jetzt ziehen sie in die Nähe der Städte, die rasch
wachsen. Diese gesellschaftlichen Veränderungen gehen nicht schleichend
und unbemerkt vonstatten. In Yorkshire begehren die Handweber 1811 gegen
die neuen Verhältnisse auf: Sie überfallen Transporte der modernen
Maschinen, zerstören sie und zünden die Fabriken an. Die so genannten
Ludditer-Aufstände mussten von Regierungsseite blutig niedergeschlagen
werden.
Ein
ehemaliger kleiner Moorort wie Haworth verfügt nun gar nicht über die
Kapazitäten, so viele neue Bewohner aufzunehmen. Es gibt keinen
Wohnraum, keine sanitären Anlagen und keinen genügend großen
Friedhof. Klos gibt es z.B. nur eines für 4 bis 5 Haushalte. Abwässer
werden, wie damals üblich, in stinkenden Kanälen entlang der Straße
hinunter geleitet.
In
1850 besucht ein staatlicher Inspektor Haworth und macht Aufzeichnungen
über die hygienischen Verhältnisse. Sein Bericht deprimiert: Allein in
den 10 Jahren von 1840-1850 gab es 1344 Beerdigungen, das bedeutet im
Durchschnitt jeden 3. Tag eine Beerdigung. Die Sitte der Engländer, die
Toten mit schweren Steinplatten abzudecken, führt dazu, dass die
Bodenlebewesen bzw. der Sauerstoff für den normalen Verwesungsprozess
unterdrückt werden. Die Kirche liegt direkt neben dem Friedhof, und die
Kirchgänger können der Predigt nur folgen, wenn sie sich Taschentücher
vor Mund und Nase halten. Ansonsten wäre der Gestank nicht zu ertragen.
Da der Friedhof erhöht liegt, wird durch ihn beständig das Grundwasser
der Gemeinde verseucht. Das Pfarrhaus liegt direkt neben dem Friedhof,
doch den Brontës geht es etwas besser als den Dorfleuten: Sie haben im
Pfarrhaus eine eigene Toilette, und ihr Brunnen wird aus einer eigenen,
hochgelegenen Quelle gespeist. Als die Familie im Jahr 1849 einmal den
Brunnen reinigen lässt, finden sich dort allerdings 10 Blecheimer in
jedem möglichen Grad der Zersetzung: Jahrelang hatten die Brontës das
mit Rost angereicherte, braune Wasser getrunken.

Der
Friedhof vor dem Pfarrhaus


Die
Kirche in Haworth mit dem Friedhof zur Zeit der Brontës

Gedenkstein
am Eingang zum Friedhof
Pfarrer
Brontë ist übrigens für seine Zeit recht weitsichtig und unternimmt
vielfache Versuche und Eingaben, den Friedhof zu schließen. Das
geschieht allerdings erst in den 50er Jahren. Und erst 1879 veranlasst Brontës Nachfolger weitreichende Sanierungen.
Die
Kindersterblichkeit in Haworth ist zu dieser Zeit so hoch wie im
schlimmsten Armenviertel Londons, dem East End. Rund 40 % der Kinder
erleben nicht ihr sechstes Jahr, die durchschnittliche Lebenserwartung
der Leute liegt zu der Zeit bei 26 Jahren.
Dass
vier der sechs Brontë-Kinder es immerhin bis etwa zu ihrem 30sten
Lebensjahr schaffen, liegt möglicherweise auch an der vergleichsweise
guten sozialen und finanziellen Situation, die Pfarrer Brontë genießt:
Er verdient ungefähr 200 Pfund im Jahr, dazu im Vergleich: das Hausmädchen
Martha Brown, das mit 11 Jahren 1839 ins Pfarrhaus kommt und dort 22
Jahre für die Familie Brontë arbeiten soll (bis zu Patrick Brontës Tod
in 1861) erhält ungefähr 4 1/2 Pfund Arbeitslohn im Jahr. |