Nachdem
die ältesten der sechs Brontë-Kinder, Maria und Elisabeth in der
schrecklichen Internatsschule Cowan Bridge ums Leben gekommen sind,
behält und unterrichtet der Vater Patrick Brontë seine jüngeren Kinder
Charlotte, Emily, Branwell und Anne alle zu Hause in Haworth.
Die
vier begabten Kinder sind ganz die Kinder ihres Vaters: Genau wie er
besitzen sie einen immensen Wissensdurst und bilden sich neben seinen
Unterweisungen auch selbst noch fort: Von Charlotte ist überliefert,
dass sie ihren in Cowan Bridge begonnenen Französisch-Unterricht
weitgehend selbstständig fortführt und z.B. mit 13 Jahren einen
Voltaire-Band ins Englische übersetzt, nach Aussagen von Fachleuten
eine nicht so schlecht gelungene Arbeit.
Von
Emily gibt es den Bericht, dass sie in den langen Zeiten, in denen sie
den Haushalt in Haworth führt, während ihre Geschwister als
Gouvernanten und Hauslehrer tätig sind, stets neben ihrer Hausarbeit
ein Deutsch-Lehrbuch bei sich hat und Vokabeln und Grammatik lernt. Ein
Zitat von Emily: "Den ganzen Tag habe ich hart gearbeitet - doch
ohne Pein - im Goldbergwerk des Lernens."
Und
die Schulfreundin Charlottes, Mary Taylor, äußerte sich einmal über
Charlotte: "Sie sammelte jede kleinste Information über Malerei,
Bildhauerei, Dichtung und Musik, als sei es Gold."
Auch
sind die Kinder alle politisch sehr interessiert und verfolgen das
Zeitgeschehen aufmerksam, diskutieren untereinander oder mit dem Vater
und entwickeln z.T. sehr eigenständige Meinungen.
In
die Jahre, während der die 4 Geschwister zu Hause in Haworth leben, fällt
der Beginn der schriftstellerischen Karriere der Brontës.
Im
Alter von 14 Jahren, kurz bevor sie ins Internat nach Roe Head gehen
soll, kann Charlotte bereits eine Liste über 22 Buchbände mit dem
Titel erstellen:
"Katalog
meiner Bücher, die ich bis zum 3. August 1830 geschrieben habe."
Im
Zeitraum von 1826 bis zum Jahr 1840 (die Brontë-Kinder sind dann junge
Leute von Anfang 20) sollen die vier, Charlotte, Branwell, Emily und
Anne in aller Heimlichkeit gemeinsam etwa 2000 Buchseiten geschrieben
haben.
Schreibende
Kinder sind damals wie heute eine exotische Klasse: Im 19. Jahrhundert
war das allgemeine Schulwesen nur mäßig ausgebaut, vielfach
existierten allein kirchliche Sonntagsschulen, in denen es in erster
Linie um das Lesen der Bibel ging.
Kinder
unterer Klassen arbeiteten in der Landwirtschaft, den Minen und den
Fabriken.
Mädchenbildung
wurde durchweg noch weniger Bedeutung beigemessen als Jungenbildung.
Es
erschüttert einen zu hören, dass sich weltweit in den letzten 150
Jahren nur schleppend etwas daran ändert: Allein 4 Millionen
Analphabeten leben in Deutschland, ca. 1 Milliarde weltweit.
113
Millionen Kinder weltweit besuchen keine Schule, davon sind 2/3 Mädchen.
Dazu
kommen die vielen Kinder, die zwar lesen und schreiben können, diese Fähigkeit
jedoch nie nutzen. Die Zahl ist in der westlichen Welt meiner Ansicht
nach im Steigen begriffen, und die Ursachen kann man sich vorstellen:
Die Reizüberflutung durch andere Kommunikationssysteme wie Fernsehen,
Filme, Computer, Internet.
Obwohl
es nicht ganz korrekt erscheinen mag, daraus den einfachen Schluss zu
ziehen: Reizüberflutung führt bei Kindern dazu, dass eigene kreative
Leistungen unterdrückt werden, kann man die Brontë-Kinder aber ein Stück
weit als belegendes Beispiel für diese Theorie anführen: Hier greift
anscheinend die gegenteilige Strömung. Hier scheint es die Reizarmut
ihrer Umgebung gewesen zu sein, die die Kinder zu ihrer Phantasie- und
Schreibtätigkeit animierte.
Nicht
anschließen möchte ich mich jedoch der Einschätzung Arno Schmidts,
der in seiner Brontë Biografie schreibt: die Phantasie sei für die Brontë-Kinder "die letzte große Rettung des in extremer Situation
befindlichen jugendlichen Genius" gewesen.
So
extrem und dramatisch war die damalige Lebenssituation der Brontë-Kinder
wahrscheinlich nicht: Sie haben sich untereinander als Spielkameraden,
was sie zu vielen modernen Kindern in Vorteil setzt, sie betreuen
verschiedene Haustiere wie Hunde, Katzen, Tauben, Wildgänse, später
einen zahmen Falken und sie können über ihre Freizeit, die sie neben
den Unterrichtsstunden beim Vater und den häuslichen Pflichten und
Handarbeiten, angeleitet von ihrer Tante, haben, frei verfügen.

Aquarell
von Emily: ihr Hund Keeper
Sie
befinden sich nicht in völliger Abgeschiedenheit von Menschen: Im
Pfarrhaus leben zu dieser Zeit: Die Kinder, der Vater, die Tante und die
von den Kindern sehr geliebte Hausangestellte und Köchin Tabitha
Aykroyd, genannt Tabby, die 1825 ins Haus kommt und 30 Jahre lang für
die Brontës arbeitet. Der Haushalt Brontë kann einem durchaus wie eine
Großfamilie erscheinen. Zudem fördert Vater Patrick die Interessen
seiner Kinder in jeder erdenklichen Hinsicht.
Wie
vieles im Leben der Brontë-Geschwister einem aber merkwürdig und
sagenhaft vorkommt, so haben die kindlichen Schreibarbeiten der vier die
Literaturwissenschaft und die Psychologie von je her fasziniert.
Auslöser
für die Kinder- und Jugendwerke der Brontës ist das Geburtstagsgeschenk
des Vaters für seinen Sohn Branwell: Eine Schachtel mit 12
Holzsoldaten, die er Branwell abends ans Bett stellt. Als Branwell sie
an seinem Geburtstagsmorgen findet, will er sie sofort stolz seinen
Schwestern zeigen.

Die
Soldaten
Charlotte
erinnert sich später: "Emily und ich sprangen aus dem Bett, und
ich schnappte mir einen davon und rief: 'Das ist der Herzog von
Wellington! Dieser soll der Herzog sein!" Emily nahm sich ebenfalls
einen heraus und sagte, er solle der ihre sein; als Anne herunterkam
(aus dem Schlafzimmer der Tante) sagte sie, einer solle ihr gehören.
Mein Soldat war der hübscheste von allen und der größte und Zoll für
Zoll vollkommen. Emilys schaute grabesdüster drein, und wir nannten ihn
Gravey (Finsterling). Annes war ein komisches kleines Kerlchen, das ihr
ziemlich ähnlich sah, und wir gaben ihm den Namen Waiting Boy
(Laufbursche). Branwell suchte sich den seinen aus und nannte ihn
Bonaparte."
Dazu
muss man wissen, dass Charlottes Idol Herzog von Wellington der große
Gegenspieler des Napoleón Bonaparte im Krieg zwischen England und
Frankreich war, was in den späteren Spielen und Geschichten um die
Holzsoldaten zwischen Charlotte und Branwell oft genug zu Streit führt.
Wie im wahren politischen Leben geht Wellington auch bei den
Kinderspielen in der Regel als Sieger über Napoleón Bonaparte hervor.

Der Duke
of Wellington

Kaiser
Napoleón
Aus
der Beschäftigung mit den Soldaten entwickeln die Kinder mit den Jahren
praktisch eine ganze eigene Welt mit Kontinenten, Inseln, Hauptstädten,
Königreichen, Regierungen, Kriegen, Eroberungen, mit Heldinnen und
Heldinnen. Sie zeichnen eigene Landkarten ihrer Reiche Gondal und Angria,
erfinden die Stadt Glasstown mit einer individuellen Architektur und
lassen ihre verschiedenen Heldinnen und Helden, die in ausgeklügelten
Verwandschafts- oder Bekanntschaftsbeziehungen zueinander stehen, die
verrücktesten Abenteuer erleben.
Man
fühlt sich bei den ausgeprägten Phantasien der Kinder an das sehr
beliebte moderne Gesellschaftsspiel "Siedler" erinnert.
Als
die Kinder jünger sind, ranken sich die Geschichten noch verstärkt um
Abenteuer. Später geht es vor allem bei Charlottes Werken um
Beziehungen und Liebesgeschichten ihrer Heldinnen und Helden. Personen
mit starken Charakteren und komplizierten Schicksalen werden erfunden,
z.B. zwei Söhne des Herzogs von Wellington: Charles Albert Florian von
Wellesley, Marquis von Douro (der Name Douro ist entstanden aus einem
der Titel des Herzogs von Wellington, Wellesley ist der wirkliche Name
Wellingtons) und Arthur Augustus Adrian Wellesley, Herzog von Zamorna.
Durch Charlottes Phantasie erhalten die beiden mit der Zeit eine immer
komplizierter werdende Biografie, zahllose Liebschaften, mehrere Ehen
und eine glanzvolle politische und militärische Laufbahn.
Das
Ungewöhnlichste an den Kinderwerken der Brontës sind aber nicht allein
die Inhalte, sondern vor allem die Form, in der sie uns präsentiert
werden:
Alle
Bücher der Kinder sind etwa 5 mal 7 cm groß und vollgeschrieben in
winziger, Druck imitierender Buchstabenschrift. Ungefähr 100 dieser
Mini-Bücher entstehen nach und nach.

Im
Vordergrund ein Penny-Stück
Neben "Romanen" und
"Novellen" über die Reiche Angria und Gondal, geben Branwell
und Charlotte auch noch ein Magazin heraus, die "Zeitschrift für
junge Männer" (Young Men's Magazine), das inspiriert ist von der
literarischen Monatsschrift "Blackwood's Magazine", welche
Pfarrer Brontë im Abonnement erhält. Genau wie in Blackwood's veröffentlichen
Charlotte und Branwell in ihrer Zeitschrift Leitartikel,
Reisereportagen, Buchrezensionen, Plaudereien, Geschichten und Gedichte.
Die Zeitschrift, von der 15 Ausgaben erscheinen, erhält ein
gezeichnetes Deckblatt, ein Editorial und ein Inhaltsverzeichnis.
Ordentlich sind die kleinen Hefte in Packpapier oder in die Rückseite
von Reklamezetteln eingenäht. Kurios ist zusätzlich der Anzeigenteil,
in dem z.B. für die Rattenfalle des Monsieur "Fängt-nix-weil-kaputt"
geworben wird, für einen Lehrgang im Naseputzen, einen Grundkurs im Lügen
oder für die Show "Eine Feder wird von der Kneipe Sulky Boys aus
eine Luftreise unternehmen" und vieles mehr.
Neben
der Zeitschrift schreiben die Kinder aber auch längere Geschichten.
Über
ihre Art zu schreiben, zeichnet Charlotte im Jahr 1830 - damals 13 jährig
- auf: "Ich fing dieses Buch (eine 3000-Wörter zählende
Abenteuergeschichte) am 22. Februar 1830 an und beendete es am 23.
Februar, schrieb 3 Seiten am ersten und 11 Seiten am zweiten Tag. Am
ersten Tag schrieb ich 1 1/2 Stunden am Nachmittag. Am zweiten Tag
schrieb ich eine Viertelstunde am Morgen und zwei Stunden am Nachmittag
und eine Viertelstunde am Abend. Macht zusammen 5 1/2 Stunden."
Die
Literaturwissenschaft hat sich auf die so genannten Juvenilia der Brontës gestürzt und hat versucht, sie zu interpretieren und ihren
Einfluss auf das Erwachsenenwerk der Schwestern zu ergründen. Es ist da
die Rede von "chronischer Unterbewertung, weil die Texte so schwer
zu lesen seien" (Frances Beer im Vorwort der Herausgabe der Angria
und Gondal-Saga in 1986), auf der anderen Seite schreibt Tom Winnifrith
in 1977: "Es ist eindeutig lächerlich zu behaupten, dass die
Juvenilia als solche große Kunstwerke sind." Es ist die Frage, wie
schriftstellerische Arbeiten von Kindern zu beurteilen sind. Man kann
sicherlich nicht die Maßstäbe anlegen, die bei der
Erwachsenenliteratur verwendet werden.
Jörg
Drews schreibt in seinem Nachwort zu "Erzählungen aus Angria"
von Charlotte Brontë, erschienen in 1987, die Lust am Lesen des Buches käme
durch das Wissen zustande, dass hier nicht unfähige Erwachsene
schrieben sondern hochbegabte Kinder. Und weiter führt er aus:
"Wer einmal bei einem literarischen Wettbewerb für breite Bevölkerungskreise
in der Jury saß und an Hunderten von Texten studieren konnte, wie
wirklich elende menschliche Unreife und grundlegende Ausdrucksunfähigkeit
aussehen, wie peinlich wirklich zurückgebliebenes und infantiles, an
allem Realitätsbezug sich vorbeimogelndes Schreiben sich liest, dem
springt die Begabung der Kinder, vor allem eben Charlottes, strahlend
ins Auge."
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